Viola Patricia Herrmann: "Du kannst die liebste Mutter mit perfekten didaktischen Kenntnissen sein und dein Kind wird dich abblitzen lassen"
Die Bio von Viola Patricia Herrmann ist lang und man könnte den Eindruck gewinnen, dass ihr Tag mehr als 24 Stunden hat. Viola ist Grundschullehrerin und Autorin, bloggt auf Mama & Co., coached Eltern und Unternehmen zum Thema Erziehung und Vereinbarkeit von Beruf und Familienleben, ist offizielle Schulexpertin bei Radio Teddy und nicht zuletzt Mutter von vier Kindern.
Wir treffen uns, ganz Corona-konform, zum Video Call und sprechen über die Herausforderungen von Homeschooling und wie man mit den aktuellen Belastungen umgeht.
styleranking: Die aktuelle Situation wird für viele Familien immer mehr zur Zerreißprobe. Wie läuft es bei dir aktuell zu Hause?
Viola: Ich fühle mich wie ein Logistikunternehmen, es ist ein einziges Organisieren. Gleichzeitig machen mich meine Jobs und meine Kinder sehr glücklich. Aber natürlich habe ich Tage, an denen ich mich sehr gestresst fühle. Wenn alle vier Kinder zu Hause sind, wird es eng. Und das, obwohl wir das Glück haben, dass alle über ein eigenes Zimmer verfügen. In diesen Momenten hilft mir Dankbarkeit. Ich sehe es als großes Geschenk, dass ich vier gesunde Kinder habe und einen Job, der mich erfüllt. Beides gibt mir Kraft.
styleranking: Wie schaffst du ein positives Lernumfeld in Zeiten von Homeschooling?
Viola: Vielen Familien fehlt jetzt die äußere Struktur. Die Zeiten der einzelnen Familienmitglieder verschieben und vermischen sich. Die Kinder benötigen aber ein Gerüst, das ihnen Sicherheit gibt. Wie man das umsetzt, ist individuell. Wichtig ist, dass die Eltern Rahmenbedingungen schaffen, die das Lernen der Kinder unterstützen. Dabei geht es um einen eigenen Arbeitsbereich (wenn möglich), um feste Zeiten und um die Arbeitseinteilung. Zum Beispiel: Geht man streng nach Stundenplan vor oder strukturiert man lieber nach Interessen? Das ist natürlich immer stark abhängig vom Alter des Kindes und davon, ob die Schüler:innen Tagesaufgaben oder Wochenaufgaben erhalten haben.
Übrigens: Was Schüler:innen in den vergangenen Monaten an Fähigkeiten und Kompetenzen erworben haben, ist enorm - auch, wenn Zeugnisse das nicht abbilden. Ich spreche von selbstständigem und organisiertem Arbeiten, digitalen Kenntnissen und mehr. Diese Fähigkeiten, können mittelfristig für eine akademische Karriere wichtig werden. Natürlich klappt das nicht sofort, aber: Lernen ist ein Prozess, der Wiederholung braucht. Leider bilden Zeugnisse das nicht ab. Wenn die Schulnote nicht wie erhofft ausfällt, heißt das nicht zwingend: Das Kind hat den Unterrichtsstoff nicht verstanden. Es kann auch heißen, dass es den Umgang damit zu Hause noch nicht beherrscht. In dieser Situation sollten Eltern die Kinder bestärken und loben.
styleranking: Elternteil und Lehrer:in zugleich sein: Welche Konflikte entstehen in der Eltern-Kind-Beziehung?
Viola: Es gibt in der Pädagogik ein Sprichwort: “Eltern sind die schlechtesten Lehrer:innen”. Lernen und Unterrichten braucht Neutralität. Der oder die Lehrer:in bildet eine Instanz und übernimmt eine feste Rolle. Genauso wie Mama und Papa. Das ist naturgegeben, was mir auch zu Hause auffällt. Meine Kinder haben keinen Bock auf mich als Lehrerin. Das hat nichts mit meinen Unterrichtskompetenzen zu tun. Du kannst die liebste Mutter mit perfekten didaktischen Kenntnissen sein und dein Kind lässt dich trotzdem abblitzen. Das darf man sich nicht zu Herzen nehmen. Mein Tipp: Dranbleiben und sich nicht von negativen Rückmeldungen stressen lassen. Kinder wollen und können uns nicht aus der Rolle der Eltern rausnehmen und das ist auch richtig.
styleranking: Wie kann ich als Elternteil (& Nicht-Pädagoge) mein Kind beim Lernen unterstützen?
Viola: Kinder reagieren auf positive Verstärkung, also auf Lob. Das heißt nicht, dass ich alles toll finden muss. Vielmehr spielen ehrliche Aussagen eine tragende Rolle. Ein positiver Verstärker wirkt in der Pädagogik mehr, als eine Strafe. Der zweite Tipp: Eine spielerische Herangehensweise an das Lernen finden, die Stress nimmt statt ihn zu produzieren. Wir dürfen uns das Leben einfacher machen. Viele Eltern denken beim Homeschooling an Mathe, Deutsch, Englisch & Co. Aber Lernen ist mehr. Unsere Kinder sind wie Schwämme, die alles aufsaugen. Gemeinsam ein Buch lesen, im Supermarkt die Preise kalkulieren oder beim Backen Maßeinheiten vergleichen, ist ebenso lehrreich und konstruktiv. Lernen soll Spaß machen und es ist mehr, als der stressige Vormittag mit Fokus auf die Schule.
styleranking: Mut zur Lücke oder Durchpowern? Eltern gehen aktuell auf dem Zahnfleisch und beklagen, dass die Aufgaben nicht an einem Tag zu bewältigen sind. Was rätst du?
Viola: Wir müssen nicht jeden Tag 120 Prozent Performance abliefern. Diesen Stress produzieren wir zu einem großen Teil selber. Schaffen wir an einem Homeschooling-Tag nur einen Teil der Aufgaben, ist es wichtig, dem/der Lehrer:in eine Rückmeldung zu geben. Denn auch für Lehrer:innen ist die Situation neu. Daher sind Feedback und konstruktive Kritik wichtig. Auch die Kinder arbeiten in unterschiedlichem Tempo. Hier würde ich auf den Mut zur Lücke setzen. Im Moment ist es wichtiger, als Familie gesund durch diese Zeit zu kommen. 100 Prozent sind gerade keine Priorität. Mein Motto: 75 Prozent machen und abends noch ein Lächeln auf dem Gesicht haben ist wichtiger, als 95 Prozent erledigen und in erschöpfte Gesichter schauen.
styleranking: Wie können Eltern mit Schuldgefühlen umgehen?
Viola: Normalität war gestern. Die Ansprüche an selbige auch. Tatsächlich scheinen unsere Ansprüche aber zu steigen, obwohl wir besser einen Schritt zurücktreten sollten. Das ist absurd und darin ist das Scheitern bereits begründet. Es bestehen immer zwei Möglichkeiten, den Tag zu betrachten: Mit einem Blick auf die Soll-Seite oder auf die Haben-Seite. Wir dürfen ruhig die Haben-Seite fokussieren und uns nicht unnötig klein machen.
Die Liebe und das Verständnis, die wir unseren Kindern entgegenbringen, sollten wir uns selber auch entgegenbringen. Stichwort Selbstliebe und Selbstachtung. Auch beim Thema Screentime sollten wir nicht zu streng mit uns und unseren Kindern umgehen. Kein Kind verblödet, nur weil es 30 Minuten mehr am Tag vor dem Ipad sitzt und Candy Crush spielt. Gerade, wenn Eltern ihre Arbeit erledigen müssen, ist es legitim, solche Mittel zu nutzen. Ich haben meinem Sohn aktuell sein Handy komplett freigegeben, damit er Facetime mit seinen Freunden jederzeit nutzen kann. Das sind wichtige soziale Kontakte, die wir versuchen sollten, aufrecht zu erhalten.
"Wir können uns gerade nicht auf Kosten anderer ausleben"
styleranking: Befürchtest du, dass Kinder der “Generation Corona” Nachteile in der Ausbildung oder im späteren Berufsleben erwarten?
Viola: Es ist zu früh, dazu eine Aussage zu treffen. Abzüglich der Sommerferien reden wir vielleicht von fünf oder sechs Monaten, die nicht regulär beschult wurden. Das ist schon ein Zeitraum, den einige Kinder nicht ohne Nachteile verkraften können. Kein Distanzunterricht kann Präsenzunterricht ersetzen. Wie eklatant die Folgen sein werden, ist aktuell nicht absehbar. Wenn sich die Situation zeitnah einpendelt, hoffe ich sehr, dass die Defizite aufgeholt werden können.
styleranking: Was hilft dir Kräfte zu sammeln und Ruhe zu bewahren?
Viola: Joggen empfinde ich als großen Ausgleich - ganz alleine durch die Natur, ohne Musik, rauskommen und Abstand gewinnen. Wir funktionieren jetzt alle als Eltern und Versorger:innen, existieren aber auch als eigenständige Menschen mit eigenen Bedürfnissen. Wir sollten als Erwachsene darauf achten, dass wir uns kleine Rückzugsräume suchen. Für andere ist es vielleicht die Badewanne oder eine halbe Stunde Ruhe mit einem Buch. Wichtig ist, dass wir uns Zeit nehmen. Hier gebe ich auch meiner Familie die entsprechende Rückmeldung. Meine Zwillinge sind fünf, meine älteste Tochter ist jetzt 15 und mein Sohn ist 13. In ihrem Teenageralter sehen sie oft nicht, dass ich auch ein eigenes Leben und eigene Bedürfnisse habe. Ich gebe meinen Kinder deshalb eine klare Rückmeldung, wenn mich etwas stört oder ich etwas nicht in Ordnung finde. Wir können uns gerade nicht auf Kosten anderer ausleben.
styleranking: Was wünscht du dir für die Zeit nach Corona?
Viola: Ich freue mich darauf, mit meinen besten Freundinnen ins Restaurant zu rennen, anzustoßen und mich zu freuen, dass der Spuk vorbei ist. Ich würde mich über diese ganzen Normalitäten freuen, die man nie zu schätzen wußte, die jetzt aber eine Freiheit sondergleichen darstellen. Was bleibt, ist hoffentlich die Wertschätzung der Freiheiten, über die wir verfügen. Ich wünsche mir auch, dass eine größere Wertschätzung zwischen den Menschen bestehen bleibt und eine größere Anerkennung für das, was der/die Andere leistet. Ich würde mich über weniger Vergleiche freuen, die einen selber erhöhen und den anderen klein machen - Stichwort Mom-Bashing. Ich glaube, jeder kämpft mit seinem eigenen Struggle und versucht das Beste daraus zu machen. Hier ist gegenseitige Unterstützung und ein ausgeprägteres Verständnis für die Mitmenschen gefragt.
styleranking: Die Situation ist für Kinder und Eltern gleichermaßen belastend. Hast du Tipps für Hilfsangebote?
Viola: Die Arche bietet in sehr vielen Bereichen verschiedene Möglichkeiten der Unterstützung an. Und auch das Familienportal des Bundes hat eine Seite mit Tipps für Familien zusammengestellt. Hier gibt es Informationen für Kinder und Eltern sowie finanzielle Ratschläge und eine Liste mit allen wichtigen Anlaufstellen.
styleranking: Liebe Viola, vielen Dank für deine Zeit, die Tipps und den Einblick in dein Familienleben.