Designer Interview

Kilian Kerner: "Wir haben die Verpflichtung, uns mit dem Krieg zu beschäftigen"

Franziska Gajek
Von Franziska Gajek
23.03.2022 / 13:48 Uhr

Normalerweise enden Fashion Shows mit tosendem Applaus, einem lächelnd winkenden Designer und einem Publikum, das schnell zur nächsten Show hetzt. Aber was ist schon normal in diesen Tagen. In der Ukraine tobt ein grausamer Krieg und bei der Berlin Fashion Week kann und will niemand wegschauen. Also endet die Show von Designer Kilian Kerner mit einem 3-minütigen Statement-Video, einem tief berührten Designer und einem weinenden Publikum.

Am 15. März zeigt Designer Kilian Kerner seine Kollektion "Claudette und Rico" im Rahmen der Berlin Fashion Week. Er erzählt die Geschichte eines ungleichen Paares mit Kleidern aus Tüll, langen Steppmänteln und einem schwarzen Brautkleid. Sie eine Prinzessin, er ein Boxer aus Marzahn. Dann folgt das Finale. Schwarze Pullis mit der Aufschrift Peace verdecken die Entwürfe beim letzten Walk. Auf einer riesigen Leinwand sprechen Prominente, Wegbegleiter:innen und Freund:innen von Kilian den immer gleichen Satz: "Stop the war".

Wir haben uns nach der Show zum traditionellen Interview mit Kilian verabredet und über den Spagat zwischen Mode und politischem Statement gesprochen.

Kilian Kerner setzt ein Zeichen und widmet sein Finale nicht der Mode, sondern der Forderung nach Frieden.   Copyright: 2022 Getty Images

styleranking: Fühlt sich deinem Kollektion nach einem Erfolg an?

Kilian Kerner: Die Reaktionen waren krass. Es gab bei einem Kleid sogar Szenenapplaus, was ich aus Berlin nicht mehr kannte. Ich mag die Kollektion sehr und es gibt nach wie vor kein Teil, an dem ich zweifel.

styleranking: “Claudette und Rico” erzählt die Liebesgeschichte von einem - auf den ersten Blick - ungleichen Paares. Warum wolltest du ausgerechnet die Geschichte dieser beiden erzählen?

Kilian Kerner: Es geht bei dieser Kollektion darum, in welchen Klischees wir denken. Ich hatte nicht geplant, ein Drehbuch und eine ganze Storyline zu schreiben. Das ist einfach passiert. Titel, die Protagonisten, die Geschichte - eigentlich die gesamte Kollektion ist während einer 40-minütigen Busfahrt in meinem Kopf entstanden.

Bei meinen Protagonisten handelt es sich um zwei Menschen, die in Klischees gefangen sind. Sie möchte keine Prinzessin sein, die von Bediensteten betreut wird und vornehmes Essen isst. Sie mag lieber Pizza. Er kommt aus Marzahn, ist Boxer, lebt bei seiner alleinerziehenden Mutter und kämpft ebenfalls mit Vorurteilen, dumm und prollig zu sein. Beide wollen diesen Klischees entfliehen.

Im ersten Moment würden wir vermutlich davon ausgehen, dass ein Boxer und eine Prinzessin nicht zueinander passen. Das liegt aber nur an unseren Vorurteilen. Eine zentrale Aussage der Kollektion ist deswegen: Es ist egal wo man herkommt und wen man trifft - es kann die große Liebe sein.

"Im Fokus meiner Show steht eine Frau, die genau das tut, was sie will"

styleranking: Bist du ein Romantiker?

Kilian Kerner: Ich bin ein Teilzeit-Romantiker.

styleranking: Was findest du romantisch?

Kilian Kerner: Romantisch war z.B. mein vergangenes Silvester. Ich stand mit meinem Freund allein in Dänemark im Meer. Das war wirklich schön. Aber ich brauche keine Kerzenabende mit Wein.

styleranking: Die Interpretation dessen, was wir als Weiblichkeit akzeptieren, spielt ebenfalls eine Rolle. Wie spiegelt sich dieses Thema in Designs und Model-Auswahl wider?

Kilian Kerner: Auch hier sprechen wir von geformten Bildern, die uns vorgesetzt werden und die unserem Gehirn einen Streich spielen. Die Frage lautet: Wer darf sich weiblich fühlen? Eine Frau mit Rundungen oder eine, mit kleinem Busen? Für mich ist Weiblichkeit viel mehr.

Ich musste so lachen, als ich unter unserem YouTube-Video gelesen habe, dass es jemand sexistisch fand, Frauen in der Show halb nackt mit einem Staubsauger zu zeigen. Ich dachte mir: Du hast es nicht verstanden. Genau darum geht es doch. Im Fokus meiner Show steht eine Frau, die genau das tut, was sie will - unabhängig davon, was von ihr und ihrer Rolle erwartet wird. Jede Frau sollte das Recht haben, transparente Kleidung zu tragen, oder einen Rollkragenpulli. Zu Staubsaugen oder in einer KFZ-Werkstatt zu arbeiten. Das sollte heute kein Thema mehr sein.

Wie definieren wir Weiblichkeit? Diese Frage zieht sich durch die gesamte Kollektion von Kilian Kerner.   Copyright: 2022 Getty Images

styleranking: Mich welchem Frauenbild bist du groß geworden?

Kilian Kerner: Ich habe mich eine Zeit lang über die Debatte gewundert, in der gefordert wurde, dass wir Frauen nicht länger als Hausfrauen zuständig für Kinderbetreuung sehen sollen. Ich konnte nicht verstehen, warum es Menschen gibt, die Frauen so wahrnehmen.

Dann wurde mir klar: Dieses Frauenbild fand in meinem Umfeld nicht statt. Meine Oma, meine Mama, meine Tanten - sie alle hatten Kinder und haben trotzdem gearbeitet. Auch in meiner Firma haben fast nur Frauen gearbeitet, auch in Führungspositionen. Und die haben weiß Gott nicht weniger verdient, als die Männer. Deswegen musst ich mich da sehr reindenken und finde diese Gedanken und „Gesetze“, die in den Köpfen sind, sehr beschämend.

styleranking: Gab es einen Walk oder Look, der die ganz großen Gefühle bei dir ausgelöst hat?

Kilian Kerner: Beim Fitting hatte ich einen Wow-Moment. Es war klar, dass ich die Show nicht mit zwei Models, die jeweils Claudette und Rico repräsentieren, umsetzen könnte. Aber ich wollte, dass die Eröffnungs- und Final-Looks von jeweils derselben Person getragen werden. Dann hat mein Lieblingsmodel Diana beim Fitting ihren Look anprobiert und ich dachte: Okay, das ist es. Das ist der Opening-Look.

"Diversität fängt bei mir mit Geschichte, Herkunft und Hautfarbe an"

styleranking: Topmodel-Kandidatin Dasha ist erneut für dich gelaufen. Warum?

Kilian Kerner: Dasha hat sich so gesteigert und die Qualität ihres Walks hat sich nochmal verbessert. Ihr Selbstbewusstsein in meinem Tüllkleid war großartig. Sie steht zu ihren Kurven und das feiere ich. Sie hätte auch sagen können: Kilian spinnst du, das möchte ich nicht tragen. Stattdessen hat sie den Look geliebt. Eine Show ohne Dasha wird es für mich nicht mehr geben.

styleranking: Findest du, dass das Thema Diversität bei der Model-Auswahl mehr an Bedeutung gewinnt?

Kilian Kerner: Diversität fängt bei mir mit Geschichte, Herkunft und Hautfarbe an. Und da ist die Modewelt seit vielen Jahren Vorreiter. Niemand kann sich einen Catwalk mit nur blonden, weißen Frauen und Männern vorstellen. Natürlich ist es toll, dass wir jetzt auch ältere Models sehen. Diese Saison war das Thema Best Ager sehr bedeutsam. Und ich denke, das haben wir Heidi Klum zu verdanken.

Schwierig wird es für mich bei den Petit Models. Wenn ich kleine Models buchen wollen würde, müsste ich die Muster meiner Kollektion schon zur Show in 10 verschiedenen Größen herstellen. Das funktioniert nicht. Kosten und Aufwand dafür wären zu hoch. Gut für die Umwelt wäre es auch nicht.

styleranking: Die Berichterstattung zur Berlin Fashion Week war sehr umfangreich. Könnte das am neuen Termin der Modewoche liegen?

Kilian Kerner: Ich habe im September schon gemerkt, dass sich etwas verändert hat. Dieses Mal mussten wir sehr vielen Influencern absagen, weil sich so viel Presse angemeldet hat. Von der Vogue waren es sechs Leute. Das war so schön. Ich hoffe und bete, dass die Fashion Week davon ablässt, aufgrund der Premium ihren Termin erneut zu verschieben. Dann sollten wir über eine Petition nachdenken. Ich finde den neuen Termin großartig.

styleranking: Dein Aufruf “Stop the war” hat für ein großes Medienecho gesorgt. Warum hast du dich dazu entschieden, dem Ukraine-Krieg Zeit und Aufmerksamkeit im Rahmen deiner Show einzuräumen?

Kilian Kerner: Ich werde diesen 24. Februar nie in meinem Leben vergessen. Mir ging es richtig schlecht, wie vielen anderen Menschen auch. Natürlich habe ich sofort an Dascha oder Diana gedacht, die ich beide sehr gern habe, und die beide aus einer ukrainischen Familie stammen.

Ich wurde öfter gefragt, ob ich meine Show absage. Darüber habe ich keine Sekunde nachgedacht. Die Menschen gehen auch weiter ins Büro. Eine Modenschau ist keine Spaßveranstaltung, es ist Teil meines Jobs, auf den ich sechs Monate hinarbeite.

Mir war aber klar, dass ich ein Zeichen setzen möchte. Zuerst kam die Idee mit den Pullis, dann wollte ich auf Musik verzichten. Montag-Nacht ,eine Woche vor der Show kam mir die Idee zum Video. Das Projekt hat sich so verselbstständigt, dass uns innerhalb von wenigen Stunden 95 Videobotschaften vorlagen. Weil das Video drei Minuten lang ist, haben wir entschieden, für die Dauer des Clips vorne stehen zu bleiben. Das war der krasseste Moment, den ich je bei einer Show erlebt habe.

Bei der Probe hat sich ergeben, dass Diana direkt neben mir stand. Ich habe ihr angeboten, in die zweite oder dritte Reihe zu gehen. Sie hat gesagt: Nein, ich möchte genau hier stehen. Also hielt ich sie an meiner Hand, die ganze Zeit über.

Es ist schlimm zu wissen, dass es diesen Krieg gibt. Und die Gewissheit zu haben, du hast hier jemanden an der Hand, dessen ganze Familie diese Gewalt erleben muss, hat mich tief bewegt. Ich habe so gezittert. Die Stimmung im Saal war unfassbar. Ganz viele Menschen haben geweint und in den Interviews nach der Show sind nicht nur mir Tränen gekommen, sondern auch den Journalisten. Das habe ich in 20 Jahren nicht erlebt.

"Wir haben die Verpflichtung, uns mit dem Krieg zu beschäftigen"

styleranking: Wie geht es mit dem Projekt weiter?

Kilian Kerner: Wir haben entschieden, die Peace-Pullover zu produzieren und den Erlös an “Ein Herz für Kinder” zu spenden. Die Nachfrage danach war so groß. Der Pullover kann jetzt vorbestellt werden.

styleranking: Es gab viel Debatte darum, wie viel Mode in Zeiten von Krieg stattfinden darf. Hast du diesen Zwiespalt gespürt?

Kilian Kerner: Nein, denn es können beide Dinge parallel existieren. Sonst dürften wir auch kein Fernsehen gucken oder durch Instagram scrollen. Das Leben muss weitergehen und wir müssen lernen, mit dieser Situation zu leben. Trotzdem haben wir die Verpflichtung, uns mit dem Krieg zu beschäftigen. Daran geht kein Weg vorbei.

Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass dieser schreckliche Krieg in Europa stattfinden kann. Aber trotzdem müssen wir weiter leben, arbeiten und existieren.

Ich war allerdings geschockt von der Mailand Fashion Week. Mailand hätte die Power gehabt, weltweit ein Statement zu setzen. Unser Engagement in Berlin ist deutschlandweit, sogar in New York, wahrgenommen worden. Aber die Milan Fashion Week hätte ein vielfaches dieser Aufmerksamkeit generieren können. Ich war enttäuscht.

styleranking: In Berlin haben sich neben dir noch weitere Designer:innen geäußert.

Kilian Kerner: Marcel Ostertag hat etwas gesagt, bei Anja Gockel gab es auch ein Statement. Und ich bin überzeugt, dass hier niemand aus PR-Zwecken gehandelt hat.

styleranking: Gibt es Themen auf Social Media, die du aktuell nicht sehen möchtest?

Kilian Kerner: Ramon und ich gehen Donnerstags in den Werbepausen von Germany’s next Topmodel immer live, um die Folge zu besprechen. Am 24. Februar habe ich zu Ramon gesagt, dass ich nicht live gehen kann. Ich war sehr verunsichert. Dann habe ich mir Meinungen eingeholt und alle haben gesagt: Geh live, beziehe Stellung und ziehe es durch. So viele Menschen waren danach froh, dass es ein bisschen Ablenkung gab.

Wir dürfen nicht wegschauen, müssen aber auch Auszeiten zulassen.

styleranking: Was gibt dir in diesen Zeiten Hoffnung?

Kilian Kerner: Ich habe in den vergangenen Monaten ein neues Verständnis für das Familienleben entwickelt. Familie und Freunde sind das Wichtigste. Wir haben in einem Hotel gefittet und meine ganze Familie, die meines Freundes und meine Freunde haben in diesem Hotel gewohnt. Wir waren morgens 22 Leute beim Frühstück. Das hat mir Kraft gegeben.

Ich habe auch Hoffnung, wenn ich sehe, wie sehr die Menschen gerade zusammenhalten. Viele Menschen engagieren sich, nehmen Leute auf, spenden Geld oder sammeln Sachspenden. Das finde ich bewundernswert. Wenn es zu einer Krise kommt, halten die Menschen zusammen.

Allerdings ist mir auch folgendes wichtig: Dadurch, dass der Krieg so nah an uns herangerückt ist, spüren wir eine Angst, die jeden Tag irgendwo auf der Welt eine Rolle spielt. Deswegen hab ich mich im Video für den Satz “Stop the war - now and everywhere” entschieden. Wir müssen uns noch mehr für alle Kriege auf dieser Welt sensibilisieren. Wir dürfen nicht mehr weggucken.

styleranking: Vielen Dank für das Interview, Kilian.

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